Was ist ABM?#

Soziale Phänomene sind oft überaus komplex. Auf den ersten Blick erscheinen soziale Phänomene nicht selten so komplex, dass sie sich einer wissenschaftlichen Erklärung zu entziehen scheinen. Doch wie jedes Phänomen in unserer Welt - ob physikalisch, chemisch, biologisch oder sozial - besteht auch jedes soziale Phänomen aus Bestandteilen, deren Verhalten und regelhaftes Zusammenwirken das Phänomen erzeugen. Möchte man also ein soziales Phänomen wissenschaftlich erklären, so muss man die relevanten Bestandteile des sozialen Phänomens und die Regeln, nach denen diese Bestandteile sich verhalten und interagieren, identifizieren. So kann man - in der Theorie - jedes noch so komplex erscheinende soziale Phänomen erklären. Doch das ist leichter gesagt als getan. Oft haben sehr einfache Verhaltensregeln auf der Mikro-Ebene (die Ebene der Bestandteile des Sozialen, die Akteure) eine sehr komplexe Folge auf der Makro-Ebene (die Ebene des sozialen Phänomens). Und oft machen kleine Änderungen der Regeln auf der Mikro-Ebene einen großen Unterschied für die Eigenschaften des sozialen Phänomens auf der Makro-Ebene. Dadurch ist es ingesamt oft ziemlich schwierig nachzuvollziehen, ob denn nun die von uns identifizierten Bestandteile, die Verhaltensregeln und Interaktionsstrukturen wirklich das untersuchte Phänomen hervorbringen und wir somit die Erklärung gefunden haben.

Genau hier hilft uns Agentenbasierte Modellierung (ABM) weiter. Das Ziel von ABM ist es, die Interaktion von vielen, nach bestimmten Handlungsmodellen agierenden Akteuren, vereinfacht innerhalb einer Computersimulation nachzubauen und so, die Makro-Folge bestimmter Eigenschaften der sozialen Mikro-Ebene nachzuvollziehen. “Agentenbasiert” ist diese Form der Computersimulation, weil wir bei der Modellierung an der Mikro-Ebene des Sozialen, den handelnden Akteuren, ansetzen, die wir explizit repräsentieren und deren Handeln modellieren, um so soziale Phänomene zu untersuchen. Mit einem solchen vereinfachten Modell der Wirklichkeit innerhalb des Computers können wir in einer Art virtuellem Labor herumexperimentieren. Das ist praktisch, weil wir so alle mögliche Arten von Experimenten, die in der realen Welt nicht möglich wären, durchführen können. Wir können schauen, was passiert wenn sich die Agenten auf die eine oder auf die andere Art und Weise (z.B. so, wie Theorie X es sagt oder so, wie Theorie Y es sagt) verhalten. Damit können wir dann einerseits prüfen, unter welchen Bedingungen unser zu erklärendes soziales Phänomen zustande kommt und somit evtl. die erklärenden Mechanismen identifizieren. Andererseits können wir sogar noch einen Schritt weiter gehen und simulieren, was in unserer realen Welt passieren würde, wenn sich alle auf eine bestimmte Weise verhalten würden oder bestimmte politische Maßnahmen eingesetzt würden.

Das ist z.B. in der aktuellen Corona-Pandemie eine wichtige Sache, weshalb zur Untersuchung des Pandemieverlaufs und möglicher Gegenmaßnahmen u.a. auch ABM eingesetzt werden. Ein sehr simples, aber sehr anschauliches Beispiel eines ABM wurde mit dem Beginn der Corona-Pandemie im Frühling 2020 in der Washington Post veröffentlicht. Hier werden unterschiedliche Ansteckungshäufigkeiten (ein soziales Makro-Phänomen) durch das Verhalten der Akteure (die soziale Mikro-Ebene) erzeugt (und somit letztlich erklärt). Unten im Video hat jemand die dort veröffentlichten Simulationen/Animationen in einem Video zusammengefasst:

from IPython.display import YouTubeVideo
YouTubeVideo('PYmY5_OcPGE')

Ein klassisches Beispiel, was demonstriert, wie “groß” die Makro-Folgen sehr einfacher Verhaltensregeln von Akteuren mit “dezenten” Präferenzen sein können, zeigt das sogenannte Schelling-Modell. In diesem Modell gibt es zwei Gruppen von Akteuren, welche zunächst an zufälligen Orten einer “Stadt” wohnen. Die einzige Verhaltensregel, die die Akteure besitzen, lautet wie folgt: Suche dir einen (zufälligen) neuen Wohnort in der Stadt, wenn weniger als 30% deiner Nachbarn zu deiner eigenen Gruppe gehören. Bevor du das Video startest: Kannst abschätzen, welches soziale Phänomen im Laufe der Zeit entsteht, wenn sich alle Akteure nach dieser einfachen Regel verhalten?

YouTubeVideo("dnffIS2EJ30")

Auf dieser Webseite (ganz unten) kannst du mit dem obigen Schelling-Modell selbst herumprobieren!

Im Folgenden Video wird noch einmal allgemein erklärt, was ABM ist. Als Beispiel werden dabei Fischschwärme genommen, was zeigt, wie universell einsetzbar und interdisziplinär anschlussfähig ABM ist.

YouTubeVideo("TfzZxJ46-z8")

In allen Beispielen für ABM wurden diese auch graphisch animiert. Die graphische Animierung ist v.a. bei der Entwicklung von ABM sinnvoll, weil man so unmittelbar sehen kann, ob die Agenten sich auch so verhalten, wie wir das wollten. Außerdem können wir die Effekte von Regelveränderungen unmittelbar beobachten, wenn wir damit herumexperimentieren. Bei der wissenschaftlichen Auswertung von solchen ABM werden die Animationen, wenn diese nicht essentiell sind, dann oft weggelassen. Stattdessen werden Outputdaten der Simulation statistisch analysiert. Wir werden uns im Kurs weniger auf die detaillierte statistische Analyse der Modelle fokussieren, sondern mehr darauf, wie man ABM als Computerprogramm entwickelt. Dabei werden wir auch vereinfachte Methoden der Animation nutzen.